"Kranke Organe werden weggeschnitten": So schlimm steht es um deutsche Tierhaltung

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Rudi (†2019)
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"Kranke Organe werden weggeschnitten": So schlimm steht es um deutsche Tierhaltung

Ungelesener Beitragvon Rudi (†2019) » Sa Okt 01, 2016 6:26 pm

Freitag, 30.09.2016, 17:05 • von FOCUS-Online-Gastautor Matthias Wolfschmidt

Rund 60 Kilo Fleisch isst jeder Deutsche im Jahr. Doch die Qualität ist meist bedenklich. Schlachtkonzerne behandeln Tiere wie faulige Früchte und schneiden kranke Körperteile einfach weg - der Rest werde weiterverkauft, kritisiert ein Experte.
Vielleicht haben Sie neulich die Bilder im Fernsehen gesehen: malträtierte Tiere, Stall-Einbrüche bei prominenten Bauernfunktionären. Experten nehmen Stellung: tierschutzwidrig. Der Hoftierarzt erklärt die Bilder anders: Normaler Wahnsinn, meint er – auch wenn er es so nicht sagt. Wem soll man glauben? Wer kann wirklich beurteilen, was los ist in den Ställen?
Die allermeisten FOCUS-Online-Leser sind keine Landwirte. Vielleicht kennt man noch welche, kommt vom Land. Dennoch: Landwirtschaft, Tierhaltung insbesondere, ist uns fern. Wir sind die Esser, und wir haben Überzeugungen, Vorurteile: Auf kleinen „bäuerlichen“ Betrieben gehe es den Nutztieren besser, am besten auf ökologisch geführten. Besonders schlimm sei „Massentierhaltung“. Das sind Klischees, die sich verselbständigt haben. Gefühltes Wissen – trotzdem falsch. Wir leben im „postfaktischen Zeitalter“, las ich kürzlich. Das gilt schon länger für unsere Vorstellungen von Landwirtschaft.
Vergessen Sie die Bauernhof-Bilderbücher! Die Experten im Wissenschaftlichen Beirat des Bundeslandwirtschaftsministers zeichnen ein gänzlich anderes Bild: Die Tierhaltung in Deutschland ist schlicht „nicht zukunftsfähig". Wegen massiven Tierleids in den Ställen, in großen wie kleinen. Überforderte Bauern, denen Fleisch- und Milchkonzerne – und erst recht Rewe, Metro, Lidl , Edeka und Aldi – immer weniger Geld zahlen. Weil es zu viel Fleisch und Milch gibt, werden die Preise gedrückt. Die Bauern drücken ihre Kosten – und ringen ihren Tieren immer höhere Leistungen ab.
Jedes dritte Schwein ist krank
Die Tiere können das „Immer-Mehr“ ab, nur gesunde Tiere schaffen das, behaupten die Bauern. Doch die Schlachthofbefunde sprechen eine deutliche Sprache: Etwa jedes dritte Schwein entwickelt mehr oder minder schwere Lungenentzündungen, Leber- oder Gelenkserkrankungen – innerhalb seiner nur sechsmonatigen Lebenszeit. Die kranken Organe und Körperteile werden weggeschnitten. „Wie braune Stellen an einer Frucht“ schreibt mir der Schlachtkonzern Westfleisch. Der „gesunde“ Rest wandert ganz normal in die Supermärkte.
Oder die heutigen Hochleistungs-Legehennen: Sie können gar nicht so viel Kalzium aufnehmen, wie sie benötigen, um Schalen für die mehr als 300 Eier zu bilden, die sie im Jahr legen. Also ziehen ihre Körper das Kalzium aus den Knochen mit der Folge massenhafter Brüche. Berufsrisiko – so wie Eileiterentzündungen und Kannibalismus. Masthühner werden in 35 Tagen schlachtreif. Massenhafte Kollateralschäden an Füßen, Gelenken, Herz und Kreislauf inklusive.
Und zur Stellenbeschreibung unserer Milchkühe gehören Euterentzündungen, Unfruchtbarkeit, Klauenschäden und Stoffwechselstörungen. Auf manchen Höfen sind 60, 70 oder 80 Prozent der Tiere betroffen, auf anderen kaum eines – egal ob Öko-Idyll oder Mega-Stall.
Gesunde Tiere sind teuer
Wenn man das wüsste! Stattdessen im Supermarktillusionstheater: rosagesunde Schweine, meditative Weidemilchkühe, perfektbefiederte Hühner ... Klar, sagt der Veganer, wer Tiere isst, macht sich schuldig. Aber die 99 Prozent der anderen essen nun mal Tiere. Und so lange das so ist, sind wir verpflichtet, die Tiere bestmöglich vor Krankheit und Verhaltensstörungen zu schützen. Doch gesündere Tiere kosten. Mehr Betreuung, mehr Arbeitszeit, mehr Hygiene.
Die lückenlose Erfassung des Gesundheitsstatus in jedem einzelnen Betrieb würde endlich Klarheit bringen. Das Elend im Detail zeigen – und die teils immensen Unterschiede von Betrieb zu Betrieb aufdecken. Technisch und fachlich wäre das kein Problem. Aber die Bundesregierung traut sich nur freiwillige Maßnahmen: „Tierwohl“-Initiativen, Forschungsprojekte, Modellbetriebe, Label. Bloß nicht das System stören und sich mit dem Lebensmittelhandel oder den Hochleistungsbauernfunktionären anlegen. Bloß nicht das Selbstverständliche fordern: Dass alle unsere Lebensmittel mit tierischen Zutaten von gesunden Tieren stammen müssen. Nachweislich. Ausnahmslos. In der ganzen EU. Und dass wir Verbraucher die Preise dafür zahlen. Müssen! Damit die Tiere nicht länger mit Schmerzen und Leiden zahlen. Ausnahmslos. Ausredelos.

Über den Gastautor
Matthias Wolfschmidt ist Autor des Buchs "Das Schweinesystem". Er studierte Veterinärmedizin in München, ist approbierter Tierarzt und erwarb zwischen 1998 und 2001 den Master of Science in Pharmaceutical Medicine an der Universität Witten-Herdecke. Er arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag, zuletzt in der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin". Seit 2005 ist er bei Foodwatch stellvertretender Geschäftsführer.

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