Die mystische Erfahrung der Unfreiheit

Für alles von Politik zu Wissenschaft, Gesellschaft, Thaifrau, Thaifrauen kennenlernen etc, oder auch nur Tratsch. Es muss nicht unbedingt was mit Korat, dem Isaan, Thailand oder Asien oder dem Reisen und Expatleben zu tun haben.
Benutzeravatar
Rudi (†2019)
Korat-Isaan-Reporter
Beiträge: 147
Registriert: Mi Nov 14, 2012 2:05 pm

Die mystische Erfahrung der Unfreiheit

Ungelesener Beitragvon Rudi (†2019) » Fr Jan 11, 2013 6:58 pm

Die mystische Erfahrung der Unfreiheit

In allen heutigen Medien findet man fast ausschließlich Berichte von Menschen über die äußeren Aspekte ihres Aufenthalts in Gefangenschaft, Geiselhaft, Konzentrationslagern, Gefängnissen usw. Im Folgenden werden Personen zu Worte kommen, die über ihre mystische Erfahrung der Unfreiheit berichten.

Vor mehreren Jahren ist eine ganze Reihe von Büchern erschienen, in denen die Autoren ihre Erfahrungen in sowjetischen Straflagern und Gefängnissen schilderten. Einige dieser Augenzeugenberichte sind auch heute noch hoch interessant, weil in ihnen nicht nur die äußere Unfreiheit, sondern besonders die Vorgänge und tief-greifenden Veränderungen zur Sprache kommen, die sich im Inneren der Menschen vollzogen haben, die in der furchtbaren Welt der sowjetischen Straflager und Gefängnisse gelebt haben.

Die Phänomene die hier geschildert werden, sind von so revolutionärer Bedeutung, und zwar nicht nur für die Psychologie und Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts und für die heutige Soziologie, sondern ganz generell für die moderne Wissenschaft, einschließlich der Philosophie. Dabei handelt es sich hier um empirische Phänomene, die von Menschen registriert wurden, die häufig nichts miteinander gemein hatten, und gerade das macht die Übereinstimmung ihrer Erfahrungen und Zeugnisse so bedeutend und wertvoll.
Am aufschlussreichsten sind in dieser Hinsicht folgende Werke: Der erste und zweite Band des "Archipel Gulag" von Solschenizyn, "In der vierten Dimension" von Schifrin, "Sologdins Aufzeichnungen" von Panin und "Eine Stimme aus dem Chor" von Terz-Sinjawski.

Alle o. g. Autoren sind sich darüber einig, dass Verhaftung, Gefängnis. Lager, kurz die Unfreiheit die wichtigste und bedeutsamste Erfahrung in ihrem Leben ist; und nicht nur das, sie versichern auch, dass sie unter den Bedingungen der Unfreiheit zwar schlimmste psychische und physische Qualen hätten erdulden müssen, gleichzeitig aber Augenblicke eines so vollkommenen Glücks erlebt hätten, wie sie für Menschen außerhalb der Lagermauern ganz unvorstellbar seien. Nie zuvor hätten sie Liebe, Hass und Verzweiflung so stark empfunden, nie so interessante und mit den wesentlichen Fragen der menschlichen Existenz ausgefüllte Tage und Nächte erlebt, nie eine solche Verbundenheit mit dem Kosmos verspürt, als während ihrer Gefangenschaft. Demnach wäre die Unfreiheit als äußerst konzentriertes, intensives Leben zu definieren.

Ein weiteres Paradoxon wird auch von den genannten Autoren bestätigt, nämlich dass nur derjenige seinen Körper retten kann, wer aus einem inneren Impuls heraus bereit ist, seinen Körper, seine physische Existenz zu verlieren. Es ist demnach unbestritten, dass tief im Inneren der menschlichen Seele eine unerklärliche Kraft wohnt, die stärker ist, und zwar nicht symbolisch, sondern empirisch stärker als alle äußeren Kräfte der Unterdrückung und Vernichtung, mögen sie noch so unüberwindlich erscheinen. Diejenigen, die diese Vorgänge beschrieben haben, sind der Überzeugung, dass in der Seele jedes Menschen mächtige psychische Energien schlummern, dass die psychische nicht von der physischen Welt zu trennen ist, und sie bestätigen, dass die Gedanken und Wünsche des Menschen in der äußeren, physischen Welt nicht etwa weniger, sondern bei weitem mehr bewirken als seine Hände.
Gleichzeitig versichern die genannten Autoren, dass es in ihrem Leben nichts Zufälliges gab, dass entgegen all ihren Versuchen und Plänen, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, alles in vorherbestimmten Bahnen verlief. Das scheint widersprüchlich: Einerseits sollen dem Menschen geheime Kräfte gegeben sein, die auf unerklärliche Weise in der äußeren Welt wirksam werden, andrerseits soll es eine Art Prädestination geben, der gegenüber der Mensch machtlos ist.
Aber der Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Wenn der Mensch, entgegen allen äußeren Gegebenheiten, entgegen seinen Wünschen und Plänen, trotz der drohenden physischen Vernichtung und entgegen allen Geboten der Vernunft - ganz zu schweigen von der öffentlichen Meinung - jener tief-inneren und keiner rationalen Kontrolle unterworfenen Stimme seiner Seele folgt, so eröffnen sich diesem Menschen ganz von allein Wege, die nicht nur zur Erhaltung all dessen führen , was er, um den Weisungen dieses mystischen inneren Kompasses zu folgen, aufgegeben zu haben glaubt, sondern es erfüllen sich auch seine geheimsten Wünsche.

Wenn der Mensch dagegen durch Handlungen in der äußeren Welt, die im Widerspruch zu dem Geheiß seiner inneren Stimme stehen seine Pläne und Wünsche zu verwirklichen, sein Leben zu retten und der physischen Vernichtung zu entgehen, so nimmt das Verhängnis, das Fatum, seinen Lauf und macht früher oder später das zunichte, was entgegen der inneren Stimme erreicht werden sollte.

Aber der Mensch besitzt die Freiheit zu entscheiden, ob er der unerklärlichen und doch so realen inneren Stimme folgen will oder nicht, genauer gesagt, die schreckliche, leidvolle Erfahrung der Unfreiheit macht ihn frei. Es gibt demnach keinen Widerspruch. Unabänderliches Schicksal und höchste Freiheit existieren nebeneinander. Vom Menschen selbst hängt es ab, ob er sich dem Fatum ausliefert oder die Freiheit wählt.

Wenn das so ist - und die hier geschilderten Erfahrungen bestätigen es -, dann müssen die sich daraus ergeben-den erstaunlichen Folgerungen das Gesamtgebäude der Wissenschaft, und zwar nicht nur derjenigen vom Menschen und seiner Psyche, sondern auch derjenigen von der gesamten sichtbaren und unsichtbaren Welt erschüttern. Wenn es gleichzeitig zwei Welten gibt, die nicht miteinander verschmolzen, aber auch nicht voneinander zu trennen sind, nämlich die Welt des Fatums und die der Freiheit, wenn der Mensch entweder in der einen oder in der anderen Welt lebt, je nachdem ob er der mit Vernunft oder Wissenschaft nicht zu erklärenden, je-dem Menschen gesondert und persönlich eigenen, geheimnisvollen und nicht immer klar vernehmbaren inneren Stimme folgt oder nicht, dann ist jede Wissenschaft sinnlos, die davon ausgeht, dass es nur eine Welt mit ein und denselben für alle gleichermaßen gültigen Gesetze gibt, die gerade durch die Erkenntnis dieser vom Menschen unabhängigen Gesetze zu beherrschen ist.

Die vielleicht paradoxeste und optimistischste Überzeugung dieser Menschen, die die geballte Kraft des Bösen am eigenen Leib verspürt haben, besteht wohl darin, dass die Kraft des Guten stärker ist als alles andere.

Wenn die äußere Welt den inneren Kräften der Seele gehorcht, dann hängt das Schicksal des Menschen von ihm selbst ab, dann gibt es keine unschuldig Leidenden, dann sind alle Prüfungen und Leiden verdient und gerecht, dann ist aber auch der Weg offen zu einem freien Leben, in dem ein humanes politisches System nur Folge der inneren Befreiung der Seele ist.

Wer seiner inneren Stimme folgt und seine Seele rettet, lernt empirisch, dass solange die Seele nicht verloren ist, das Wichtigste noch nicht verloren ist, und auf dieser Erkenntnis beruht der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele.

Der inneren Stimme folgen heißt: ja nichts anderes, als die Handlungen in Raum und Zeit – im Hier und Jetzt - im Hinblick auf die Ewigkeit festlegen.

Eine solche Erfahrung ist aber nicht nur für Menschen wichtig, die unter den Bedingungen äußerster Unfreiheit leben, sondern für alle, die jemals auf dieser Erde gelebt haben und noch leben werden. Es ist äußerst wichtig sich klar zumachen, dass Gefängnis und Straflager, d.h. die durch nichts einzudämmende Willkür der Kräfte der sichtbaren Welt früher oder später jeden Menschen erwarten und dass er der Entscheidung, ob er sich dem Tod, der totalen physischen Vernichtung ausliefert oder entgegen allem »Realem« und »Objektiven« und entgegen aller Vernunft mutig seiner inneren Stimme folgen will, nicht entgeht. Krankheiten, Katastrophen, Unglücksfälle und Tod sind nichts anderes als Verhaftung, Prozess, Gefängnis und Straflager. Niemand kann sich diesen Dingen entziehen.

Mag sein, dass diejenigen, denen die Erfahrung der Unfreiheit erspart geblieben ist, annehmen, es bestehe ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Leben im Gefängnis und außerhalb. Diejenigen aber, die in Unfreiheit gelebt haben, beginnen unwillkürlich zu begreifen, dass dieser Unterschied ganz oberflächlich und temporär ist und dass für jeden Menschen die freie Welt einmal zur Todeszelle wird. "Die ganze Welt ist eine einzige Todeszelle", schreibt Solschenizyn, und er fährt fort: "Eng ist's in der Zelle, aber ist die Freiheit nicht noch enger?" Panin nennt die ganze Welt ein einziges »Durchgangslager«, und Terz vergleicht den Tod mit dem Eintritt in die Freiheit.

Was geschieht nun mit dem Menschen, der plötzlich aus dem gewohnten Leben herausgerissen wird und den erbarmungslosen Mächten anheimfällt, die nur eines wollen, nämlich seine Vernichtung? Alles, was das Leben dieses Menschen ausgemacht hat, was er besaß - Freiheit, Freunde, eine Arbeit, die er liebte, Eigentum, Leib und Leben - alles das kann er nicht schützen; es liegt im Machtbereich des Bösen. Und wenn er versucht, sich mit Mitteln zu verteidigen, die der gleichen Sphäre angehören, in der er bisher gelebt hat, so ist er von vornherein zum Scheitern verurteilt. Alles, was ihm die äußeren Mächte nehmen können, kann er aus eigener Kraft nicht schützen.

An diesem entscheidenden Punkt, unmittelbar vor der völligen Vernichtung, beginnt aber der Mensch zu begreifen, dass es doch etwas gibt, was dem Zugriff der äußeren, scheinbar unüberwindlichen Kräfte entzogen ist, und dass, wenn auch alles übrige nicht zu retten ist, zumindest in einer Hinsicht Widerstand, Kampf und Sieg möglich sind, nämlich, wenn es darum geht, die Seele zu bewahren. Wer sich ihr anvertraut, ihrer Stimme, d. h. der inneren Stimme der Freiheit folgt, der hat eine Chance, den Kampf gegen das Böse und die Gewalt siegreich zu bestehen. Zuvor aber muss er allem entsagen, was ihm die Mächte der sichtbaren Welt nehmen können.

"Nur nicht am Leben hängen", schreibt Solschenizyn, und an anderer Stelle: "Besitze nichts, sag` dich los von allem, auch von deinem Nächsten, denn auch sie sind deine Feinde." Und auch Panin bestätigt, dass der Kampf eine Trennung von allem erfordert - mit Ausnahme der Seele. Nur wer völlig entsagt, wird völlig frei, d. h. die Freiheit beginnt dort, wo nichts mehr zu verlieren ist.

Wenn aber der Mensch alle Bindungen abgestreift hat, geschieht mit diesem äußerlich Unfreien, innerlich aber endlich ganz Freien etwas äußerst Geheimnisvolles: In der Tiefe seiner Seele regt sich eine gewaltige Kraft, die nicht nur seinen total erschöpften Körper unglaubliche Widerstandskraft verleiht, sondern auch auf geheimnisvolle und für das heutige Bewusstsein völlig unerklärliche Weise auf die sichtbare Welt einzuwirken, d. h. Ereignisse zu bestimmen beginnt, auf die - ich wiederhole das noch einmal - der Mensch, soweit man heute weiß, gar keinen Einfluss nehmen kann, die jedoch nun für ihn zur Rettung werden.

Deshalb schreibt Panin: "Wer die Seele rettet, der rettet auch den Körper"; deshalb wiederholt Solschenizyn mehrfach, dass nur der Geist retten kann, nur der Geist den Körper erhält, und alle genannten Autoren bestätigen, dass der Körper, wie sie an sich selbst oder an anderen immer wieder beobachten konnten, auf starke geistige Konzentration mit unglaublicher Zähigkeit reagiert, während umgekehrt der Verlust des Geistigen den physischen Untergang nach sich zieht.

"In uns wohnt eine ungeheure Kraft", behauptet Panin, und er fährt fort: Das ganze Universum ist auf geheimnisvolle Weise mit den Tiefen unserer Seele verknüpft. "Jeder von uns ist das Zentrum des Weltalls", schreibt Solschenizyn; und sie sind nicht auf abstraktem Wege zu diesem Schluss gekommen, sondern haben die Wirkung dieser unbekannten Kraft immer wieder am eigenen Leib verspürt. Solschenizyn schreibt von einer geheimnisvollen inneren Wärme, die wie aus einer anderen Welt zu kommen scheint und den Menschen im Gletschereis vor dem Erfrieren bewahrt; Panin berichtet von einer rätselhaften, unbekannten Kraft, die ihn nach vierzig Tagen wieder zum Leben erweckt habe, und von einem Gefangenen, der sich jeden Tag bei grausamsten Frost nackt im Schnee gewälzt habe, ohne Schaden zu nehmen; und noch viele andere, selbst erlebt oder bei anderen beobachtete unbegreifliche Phänomene bezeugen die Autoren.

Wer alles Äußerliche von sich abgestreift hat und beschließt, fortan nur seiner inneren Stimme zu folgen, und das heißt, ja nichts anderes als glauben, wer dann staunend in sich jene geheimnisvolle, aber ganz reale und nicht nur in seinem Inneren, sondern auch in der äußeren Welt wirksame Kraft entdeckt, der bemerkt gleichzeitig, dass er nicht Herr dieser Kraft ist, d. h. dass er nicht nach Gutdünken über diese Kraft verfügen kann, sondern dass umgekehrt alles in seinem Leben, ja das Leben selbst, gänzlich von dieser geheimnisvollen - inneren Kraft abhängt, die in der Sprache der Religion «Gott« genannt wird.

In dem Bemühen, sich über diese allmächtige mystische Kraft, mit der sie so erstaunliche Erfahrungen gemacht haben, und über die Beziehung des Menschen zu ihr Klarheit zu verschaffen, haben die Häftlinge verschiedene Methoden der Verinnerlichung ausprobiert. Nicht aus abstrakten, theoretischen oder experimentell-wissenschaftlichen Erwägungen, sondern einzig und allein um der schrecklichen und unausweichlichen Todes-gefahr zu begegnen, haben sie die Wirkung des Gebets, der Meditation und sogar einfacher Beschwörungen getestet. Nicht nur das Neue Testament, soweit es ihnen in Form einzelner, nach dem Gedächtnis notierter Textstellen vorlag, sondern auch alles, was mit der Parapsychologie und Theosophie zusammenhängt, wurde für sie zum wichtigsten und notwendigsten praktischen Hilfsmittel bei dem Versuch, Leib und Seele in einer Situation zu bewahren, in der geistige Anstrengungen unmittelbare Wirkungen in der äußeren sichtbaren Welt erzielten.

Jahrhundertealte, längst vergessene Weisheiten erweisen hier erneut ihre Gültigkeit, so z. B. die Lehre, dass Luft auch Geist ist und unerklärliche Energien verleiht, wie Terz schreibt, dass der Mensch zusammen mit der Nahrung eine geheimnisvolle, von den alten Indern als »Prana» bezeichnete lebenspendende Energie aufnimmt, wie Panin lehrt, der auch berichtet, dass der Mensch vor äußerem Schaden durch einen Astralpanzer bewahrt wird, wie er am eigenen Leib erfahren habe.
Diese von der Außenwelt völlig Abgeschnittenen beschäftigten sich mit der Bibel, die sie auf handgeschriebenen Zetteln in Auszügen bei sich tragen, sie entdeckten die in Vergessenheit geratenen Grundbegriffe der östlichen Yoga-Lehren, sie wenden sich der Theosophie zu, kurz , sie versuchen mit allen Mitteln, ihre persönlichen Erfahrungen, an denen sie ja nicht zweifeln können, auch wenn sie noch so vielen Lehren, Ideologien, Doktrinen und wissenschaftlichen Theorien widersprechen, zu bewältigen. Und dass schon die Erwähnung des Namen Jesu Christi eine magische Wirkung auf die Vertreter der Gewalt ausübe, wie Solschenizyn behauptet.

Bei all diesen Versuchen einer theoretischen Bewältigung hat sich herausgestellt, dass die geheimnisvolle Kraft durch keinerlei geistige Methoden zu steuern ist. Sie führt und lenkt mit unerklärlichen, nicht für jeden wahrnehmbaren Zeichen, und der Mensch kann sich ihr nur ganz anvertrauen oder entziehen. Auf keinen Fall gehorcht sie dem Willen des Menschen; sie erteilt ihre Weisungen und der Mensch kann ihnen nur folgen.

Solschenizyn spricht sehr eindrucksvoll von einem inneren »Relais«, das ihm die Eigenschaften jedes Menschen, mit dem er zu tun hatte, unfehlbar anzuzeigen pflegte. Andere bestätigen die absolute Zuverlässigkeit dessen, was wir gemeinhin »Instinkt« nennen. Das Wesen des Menschen spiegelt sich jedoch nur in seinen Augen. Was die Augen sagen, "ist besser als ein Pass", bezeugen Schifrin, Panin und Solschenizyn.

Die Erfahrung lehrt demnach, dass es eine ganz reale Verbindung zwischen den menschlichen Seelen außerhalb von Zeit und Raum gibt. Solschenizyn erzählt von einem Zellengenossen, der im Schlaf voraussah, was sich am folgenden Tag in der Zelle abspielen würde.

Beispiele für die Wirksamkeit des bloßen Gedankens führen alle Autoren an, sie bestätigen, dass Gedanken wirksamer sein können als Hände. Wenn schon der bloße Gedanke bestimmte Wirkungen erzielen kann, dann ist es nicht verwunderlich, dass in totalitären Systemen das »Anders-denken«, wie Schifrin es nennt, als schlimmstes Verbrechen gilt, oder dass Solschenizyn sagt: "Schon der bloße Gedanke war strafbar."

Die starke innere Konzentration auf ein bestimmtes Ziel ruft in der äußeren Welt Ereignisse hervor, die die Voraussetzung für die Verwirklichung des inneren Ziels schaffen. Oder genauer gesagt, die starke innere Konzentration ruft die Reaktion der sowohl in der Tiefe der menschlichen Seele als auch in der äußeren Welt wirksamen mystischen Kraft hervor, und dem Menschen scheint es dann, als greife jemand im richtigen Moment in sein Leben ein und mache das Ziel, auf das er sich konzentriert hat, für ihn erreichbar.

Es hat sich gezeigt, dass die sichtbare und die unsichtbare Welt auf einer nicht erklärbaren gemeinsamen Grundlage ruhen, und dass die Ereignisse in der sichtbaren Welt von den Ereignissen in der unsichtbaren Welt abhängen und nicht umgekehrt.

Wenn aber die Erfahrung zeigt, dass es in der Tiefe unserer Seele eine Sphäre außerhalb von Raum und Zeit gibt, oder genauer gesagt, dass unsere Seele einer solchen Sphäre angehört, dann gibt es für die Seele auch keinen Tod, denn der Tod liegt innerhalb der Grenzen von Raum und Zeit

Tatsächlich besteht ein großer Unterschied zwischen den Leiden eines Solschenizyn, der während seiner Haft häufig Augenblicke höchsten Glücks erlebt, und beispielsweise denen eines ebenfalls inhaftierten typischen Sowjetingenieurs, der keinerlei »höhere« Sphäre kennt, d. h. der völlig blind und taub ist für die unsichtbare Welt und der inneren Stimme, und der daher bis zu seiner Verhaftung von der sichtbaren Welt bedenkenlos alles nimmt, was sie ihm bietet, und nun unter dem endgültigen Verlust all dessen, was sein Leben bis dahin aus-gemacht hat, unendlich leidet.

Wenn der Mensch ganz sündenfrei wäre, d. h. eine solche innere Kraft besäße, dass er von der Geburt bis zu seinem Tode jeden Augenblick nur seiner inneren Stimme folgen könnte, dann gäbe es für ihn doch keinen Tod, denn dann würden ihm ja die Gesetze der sichtbaren Welt gehorchen? Es ist ohne Zweifel so, dass die Unsterblichkeit der Seele für fast alle Menschen, die der drohenden physischen Vernichtung gemacht haben, zur feststehenden Tatsache geworden ist.

Der aus dem Leiden erwachsene Glaube an die Unsterblichkeit der Seele und das aus Erfahrung gewonnene Bewusstsein, dass alles, was mit dem Menschen geschieht, voll verdient ist und es keine unschuldig Leidenden gibt, haben die Gefangenen die alte Lehre des Karma nahe gebracht, jenes mystischen Gesetzes, das besagt, dass jedes Unrecht, das der Mensch tut, früher oder später auf ihn zurückfällt.

Die genannten Autoren gelangen jedenfalls aus eigener Erfahrung zur Lehre vom Karma. Schifrin schreibt, die Erkenntnis des Gesetzes von Karma und Reinkarnation verändert das gesamte menschliche Denken.

Solschenizyn erzählt von einer alten Frau, die fest davon überzeugt war, dass man sie freilassen werde, wenn sie nach Gottes Ratschlag für alle ihre Sünden bezahlt habe, gleich wie das offizielle Urteil laute. "Gott kennt die Fristen", habe die Alte gesagt, und wirklich sei eines Tages, ohne dass sie irgendwelche Bittschriften oder Gesuche verschickt habe, aus Moskau ein Gnadenerlass gekommen, und sie entlassen wurde.

Aus Erfahrung lernten die Häftlinge, dass es falsch sei, aus eigener Kraft etwas zu wollen, dass man sich viel-mehr dem Schicksal ganz anvertrauen und nur der inneren Stimme folgen muss, und dass alles gut endet, wenn in der Seele Friede herrscht; dass dies auch dann der Fall sein kann, wenn man nur untätig duldet und wartet, bis die Zeit der Befreiung gekommen ist, und dass der Mensch umgekehrt, wenn er versucht, seine Geschicke selbst in die Hand zu nehmen, sein Leben nur kompliziert und zerstört. Solschenizyn schreibt: "Was sie leiden müssen, das sehen sie wohl, worin sie aber schuldig sind, das sehen sie nicht."

Nur der wird frei, der sich aus der Trostlosigkeit der inneren Knechtschaft löst. Innere Knechtschaft führt ins Gefängnis, innere Befreiung dagegen in die endgültige Freiheit
Das Leiden öffnet den Menschen für die Welt in seinem Inneren, für den mystischen Kompass in seiner Seele, lässt ihn nach seinen Sünden fragen. Vielleicht besteht die schlimmste Strafe, die einem Menschen auferlegt werden kann, darin, dass ihm die bittere Erfahrung des Leidens zu seinen Lebzeiten vorenthalten bleibt.
Das Gute in seiner Seele beginnt sich zu regen, der Mensch wird nachsichtiger und geduldiger, mit einem Wort, er wird gut. Das Leiden weist dem Menschen den Weg zur wahren Freiheit; es befreit ihn von allem Äußerlichen, Unwichtigem, vor allem aber von der Götzendienerei vor den Mächtigen dieser Erde.

Die Erfahrung der Unfreiheit hat bewiesen, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, für sich selbst einen Zu-stand äußerster Freiheit herzustellen, und dass es in seiner Macht liegt, die Welt auf der Grundlage des mystischen Gesetzes zu verändern. Die Erfahrung hat weiter gezeigt, dass das Geschick des Menschen nicht von irdischen Mächten, nicht von äußeren, physischen Kräften bestimmt wird, sondern allein von der mystischen Kraft, die seit altersher »Gott» heißt und deren Beziehung zum Menschen allem Anschein nach nur von der Beziehung des Menschen zu seiner inneren Stimme abhängt.
Die Freiheit, die im Gehorsam gegenüber der inneren Stimme, der Seele besteht, kann dem Menschen durch keine äußere Macht genommen werden; er kann sie nur selbst verraten.

Die Erkenntnis, dass die unsichtbare Welt eine Realität ist, muss das gesamte menschliche Denken und Wissen unserer Zeit verändern.

Es wird nie irgendeine äußere Sicherheit geben, weder vom Verstand, der Wissenschaft, den Kirchen noch von irgendwelchen Lehren. Die innere Stimme ist für jeden einzelnen Menschen verschieden. Wer aber sehend geworden ist, der braucht diese Sicherheiten eben-sowenig wie einer, der einen Magnetkompass bei sich hat und nicht erst mühsam erforschen muss, wo von irgendeinem künftigen Standort aus Norden oder Süden sein wird.

Nur der wird frei, der seiner inneren Stimme folgt. Ins gelobte Land kommt nur der, der nicht weiß, wohin er geht.

Zurück zu „Offene Diskussion und freie Wortgefechte (Ernst & Scherz)“



Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 145 Gäste